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Pressebericht, Donaukurier, 22.Juni 2010 / Pfaffenhofener Kultursommer 2010

 

Suche nach Sinn in einer unverständlichen Welt

 

Pfaffenhofen (PK) Leichte Kost war es nicht, was Norbert Härtl (Gesang und Gitarre), Max Eichenauer (Rezitation, Klarinette) und Josef Bichlmair (Zither-Improvisation) im ausverkauften Theatersaal des Hauses der Begegnung den staunenden Zuhörern boten.

 

Giganten der Sprache hatten sie sich vorgenommen: den Amerikaner Tom Waits, 1949 geboren und das Elend der nordamerikanischen Großstadt beklagend, und Rainer Maria Rilke, den Deutschen aus Prag, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Elend der Bevölkerung von Paris anprangerte. Und das ergab für das Trio um Norbert Härtl den entscheidenden Anknüpfungspunkt zu einem beeindruckenden Abend unter dem Titel "Rilke meets Tom Waits".

Da der Amerikaner nicht nur Poet, sondern auch Schöpfer herrlicher Tondichtungen ist, war die Musik des Abends vorgezeichnet. Waits Kompositionen, teils Ohrwürmer, teils wenig bekannt, wurden von Härtls Gitarre Melodie führend aufgegriffen, Eichenauer gesellte sich improvisierend dazu mit einer Blechklarinette, die er bei einem New Yorker Trödler einst erstand, und Bichlmair gab mit seiner Zither sozusagen das Continuum: improvisierend kreisten seine Tonfolgen um das Gehörte, Gedanken – aus Sprache formuliert – setzte er mit Musik fort und unterstrich damit der Wörter Bedeutung.

Härtl, der Sänger, trägt die innigen Songs im amerikanischen Originaltext vor, Eichenauer liefert als eindringlichen Zwischentext eine Übersetzung, poesievoll und nicht weniger innig. Nahtlos, fließend wie Musik, gehen diese Waits-Botschaften in Rilke-Gedichte über.

"Ich kreise um Gott, ich habe ihn nicht gefunden", ruft Rilke hilflos, während sich Waits auf den Instinkt seines Ponys verlassen muss, um den richtigen Weg zu finden. Immer wieder haben die Poeten Halt und Richtung verloren, beziehen keine Position, sondern suchen und suchen. Zu festgefahren und dem Kapitalismus-Götzen verfallen oder unreflektierter Etikette verhaftet scheinen die Gesellschaften Europas und der USA. "Ich will nicht erwachsen werden", schreit Waits hinaus, "ich will auch nicht zählen lernen in der Schule, nur damit ich lesen kann, ob ich das dickste Bankkonto habe!"

Und all zu strenges Elternhaus und erdrückendes Bürgertum lassen schon den jungen Rilke täglich überlegen, ob er Garten und Natur abends gegen dieses Elternhaus tauschen soll. Aber hat sich über Generationen die Situation für Jugendliche gebessert? Die Eltern sind es nicht mehr so häufig, die als Bremse auftreten. Stattdessen: Waits sieht das Jugenddilemma in US-Metropolen, Drogenleichen und Kriminalität sind äußere Hinweise auf Vernachlässigung und Hoffnungslosigkeit.

Ein Großstadtphänomen, das Rilke vor 100 Jahren in Paris bereits schlaflose Nächte bereitete. Nicht die Glitzerwelt am Montmartre raubte ihm die Nacht, sondern das Elend. Waits alias Eichenauer singt aktuell im Rap-Stil "Die großen Städte sind nicht wahr, sie lügen … sie nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren."

Wie sollen Sensible wie Rilke oder Waits mit so einer Welt fertig werden? Sie werden es nicht. Sie suchen und suchen. Ein Leben lang. Rilke zweifelt. Er kritisiert die Kirche wegen falsch verstandener Christlichkeit. Waits seinerseits braucht in bitterem Sarkasmus am Sonntag seinen Schokoladen-Jesus. Beiden gemeinsam: Die Wahrnehmung von Engeln, die vom Beschützer im naiven Kindesalter zu fordernden Engeln für Erwachsene mutieren, zu "schrecklichen Engeln mit schwarzen Flügeln" (Waits).

Betreten und beglückt – auch so eine scheinbar unvereinbare Gefühlspaarung – geht der Zuhörer nach langem Applaus nach Hause. Er ist beglückt, dass ihm zwei Dichter und drei Interpreten an diesem Abend geholfen haben, das eigene Unwohlgefühl in Worte und Musik zu fassen. Kunst hilft zuweilen, Sprachlosigkeit zu überwinden.

Von Peter Feßl

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